Mein ältester Sohn ist nun 27 Jahre alt. Alles ist "normal" gelaufen. In der Primarschule erhielt er sogar Begabtenförderung in Mathe.
Mein zweiter Sohn ist mittlerweile 24 Jahre alt. Als er ca. 3 Jahre alt war, machte mich die Krippenleiterin darauf aufmerksam, dass er nicht gleich wie die anderen Kinder reagiere. Von da an gingen die Abklärungen los. Im Kinderspital diagnostizierte man einen Entwicklungsrückstand, wahrscheinlich entstanden in der Schwangerschaft.
Bei meiner Tochter, jetzt 20 Jahre alt, passte man dann in der Schwangerschaft besonders auf: Ich ging etliche Male in die Voruntersuchungen. Auch bei ihr wurde dann ein Entwicklungsrückstand diagnostiziert, entstanden vermutlich in der Schwangerschaft.
Beide Kinder konnten noch für 3 Jahre mit externer Hilfe den Regelkindergarten besuchen, dann wurden sie in eine heilpädagogische Schule integriert. Da man äusserlich den beiden nichts ansah, sie sich aber manchmal unüblich verhielten, eckte ich mit ihnen oftmals unterwegs an. Für einen Jungen in der Klasse meines Sohnes übernahm ich die Beistandschaft. Da gab es einen Rechtsstreit mit der Krankenkasse. Der Anwalt riet mir, den jungen Mann auf das fragile-X-Syndrom testen zu lassen.
Da tauchte für mich erstmals dieser Begriff auf. Ich informierte mich auf der Webseite des Vereins FraXas. Bei der Beschreibung fiel mir auf, dass sie, ausgenommen der Epilepsie, genau auf meinen Sohn passte. Da es nur eines Testes bedarf, liess ich meinen Sohn darauf testen.
Ueber das Resultat war ich einerseits froh, hatte ich in der Schwangerschaft nichts falsch gemacht; andererseits war ich traurig, dass ich 24 Jahre warten musste, um dies zu erfahren. In all den Jahren habe ich mich oft über den Sinn des Lebens gefragt, falls es überhaupt einen gibt. Jeder Mensch sollte als Teil des Ganzen verstanden werden, in dem jeder Einzelne seinen Platz und damit seinen Sinn hat.
Es ist der 11. Oktober 2002. Ich bin schon ganz neugierig, ob ich einen Bruder oder eine Schwester bekomme, respektive bekommen habe. Da geht die Tür des Wartezimmers im Berner Salemspital auf, und meine Grossmutter und ich dürfen zu meiner Mama und meinem Geschwisterchen ins Zimmer. Da liegt er, mein kleiner, nein, winziger Bruder. Tief eingewickelt in viele Decken, sieht man nur sein Gesicht. Die ersten Worte, die ich zu ihm gesagt habe, waren: „Juppi! Itz hani ändläch äs Gschwüsterti!!!“.
Ich liebe meinen „kleinen“ Bruder. Nicht so wie es bei den meisten Geschwistern ist, indem sie sagen, sie haben sich lieb, aber trotzdem meistens streiten. Nein, ich liebe meinen Bruder wirklich. Fast so, als wäre er mein eigenes Kind. Klar nervt er mich manchmal, aber wenn er traurig, wütend oder verletzt ist, fühle ich das gleiche. Für mich, zumindest habe ich das starke Gefühl, ist mein Bruder mein Seelenverwandter.
Hier ist eine Art Portrait meines Bruders:
Mit seinen grün – braunen, wunderschönen und speziellen Augen, konnte mein Bruder schon immer diesen sehr wirksamen, flehenden Hundeblick machen und so alle beeinflussen, vor allem mich. Die langen braunen Wimpern, die kleine Stupsnase mit den wenigen Sommersprossen und die Herzchenlippen… tja, ich würde sagen, mein kleiner Bruder ist ein „Schnüggu“. Das Beste an meinem Bruder, ach übrigens, sein Name ist Lars, ist sein unglaublicher und verdammt süsser Charme. Lars ist ein kleiner Charmeur. Wenn seine Augen strahlen, sein Mund sich zu einem Lächeln verzieht und er mich einfach nur noch anstrahlt, sieht man seine Freude so sehr, dass es mir warm, sogar heiss, ums Herz wird. Wie man mich glücklich machen kann? Bring meinen Bruder zum strahlen, denn das ist für mich meine grösste Freude! Lars würde ich, wie folgt, beschreiben: charmant, süss, nett, manchmal nervig, lieb, voller Freude, dankbar und für mich mein halbes Leben, im Ernst!
Wenn ich Lars nicht hätte, wäre ich sehr wahrscheinlich nicht so, wie ich heute bin. Dank meinem Bruder, weiss ich mein Leben, meine Intelligenz und meine Nicht – Behinderung zu schätzen. Lars hat mir auch unabsichtlich beigebracht, behinderte Menschen zu verstehen, zu respektieren und vor allem mit ihnen umgehen zu können, denn man sollte sie, meiner Meinung nach, wie alle anderen Menschen behandeln! Mich berühren Menschen mit einer Behinderung, nicht aus Mitleid, sonder weil sie ihre Freude auf eine ganz ehrliche und spezielle Weise zeigen können. Diese Freude verleiht mir ein riesiges Glücksgefühl. Wie gesagt, mein Bruder hat mir vieles gegeben und gezeigt, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Ich liebe meinen kleinen, süssen und einzigartigen Bruder, so wie er ist. Ob er behindert ist oder nicht, ist völlig egal!
Eigentlich wäre das der Schluss gewesen, doch ich möchte noch etwas anmerken:
Hätten Sie, bis das Wort Behinderung gefallen ist, gemerkt, dass Lars ein Handicap hat? Ich glaube nein, damit möchte ich sagen: Haben Sie keine Vorurteile gegenüber den behinderten Menschen, denn genau diese Menschen, sind einfach wunderbar und etwas sehr Gutes für unsere Bevölkerung, denn sie können uns die Augen öffnen und uns so viel geben und zeigen!!!
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